Epochenumbruch 1900

1871 wird in Versailles das Deutsche Kaiserreich gegründet. Adel und Militär prägen den neuen Staat. Das Militär gilt als eigentliche „Schule der Nation“. Unter Wilhelm II. entwickelt sich Deutschland zu einer der größten Wirtschaftsnationen. Technik, Medizin, Forschung – deutsche Industrielle und Erfinder sind weltweit führend. Doch haben Wirtschaftswachstum und Fortschritt ihre Schattenseiten. Hunderttausende ziehen vom Land in die boomenden Metropolen. In den neu entstehenden Mietskasernen herrschen Armut und Krankheiten. Die Arbeiter, die den enormen wirtschaftlichen Fortschritt erst ermöglicht haben, kämpfen für mehr Lohn und bessere Lebensbedingungen und fordern politische Mitbestimmung.

Neue Techniken und Erfindungen ändern die Lebens- und Arbeitswelt der Menschen um 1900 radikal. Auch die Literatur der Zeit ist durch ein weites Spektrum gekennzeichnet. Gerhart Hauptmann schreibt neue, schockierende Stücke für das Theater. In seinem Drama „Die Weber“ bricht ein Kind vor Hunger zusammen. Theodor Fontane verletzt Tabus und macht Frauen zu Heldinnen seiner Werke. Thomas Mann zeichnet mit feinem Spott das Bild des Großbürgertums seiner Geburtsstadt Lübeck. Um Großstadterfahrungen geht es in Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. So unterschiedlich die literarischen Strömungen sind, vereint sie jedoch ein Ziel: Der Aufbruch in die Moderne.

„Ich bin für Reichtum und vornehmes Haus. Für Glanz und Ehre und für Zerstreuung. Weißt Du, was ich nicht ausstehen kann, ist Langeweile.“ Neben „Irrungen, Wirrungen“ ist „Effi Briest“ einer der bekanntesten Romane Theodor Fontanes. Die Ehebruchsgeschichte der Titelheldin, die auf einer wahren Begebenheit beruht, beschreibt die harten Konsequenzen, die in der kaiserlichen Gesellschaft die Übertretung der bürgerlichen Moralvorstellung hat. Der Journalist Fontane hat erst spät seinen Durchbruch als Romanautor. Er gilt als bedeutender Vertreter des Realismus in Deutschland. Sein Thema sind Frauenschicksale, die er mit viel Empathie beschreibt. Besonders die Leserinnen sind ergriffen – viele erkennen ihre eigene Geschichte.

Vom zensierten Schriftsteller zum Nobelpreisträger – eine Karriere der Extreme. Gerhart Hauptmann ist der erfolgreichste Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Über 20 Jahre bringt er jährlich ein neues Stück auf die Bühne. Sein Drama „Die Weber“ provoziert einen Skandal. Konservative Theaterbesucher und Kaiserhaus sind schockiert. Aus Angst vor Krawallen wird das Stück zeitweise verboten, doch ist das Interesse an neuen sozialkritischen Dramen vor allem bei Theatererneuerern und Linken groß. Es folgt „Der Biberpelz“ – eine beißende Satire auf den deutschen Beamten. Hauptmann gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus. Bis heute zählen zahlreiche seiner Theaterstücke als Klassiker des Genres.

Rasant wandelt sich der literarische Markt Ende des 19. Jahrhunderts. Durch Neu-Leser – mittlerweile können zwei Drittel der Deutschen lesen – und die Technisierung der Buchproduktion wird Literatur zu Massenware. Doch nur wenige Autoren werden reich und berühmt. Leichter Lesestoff ist gefragt. Fortsetzungsromane von Eugenie Marlitt – der ersten Bestsellerautorin der Welt – und Karl May, die in Zeitschriften wie der „Gartenlaube“ erscheinen, finden ein Millionenpublikum. Groschenheftchen werden von Kolporteuren bis an die Haustür gebracht. Bücher bleiben für die einfachen Leute ein unerschwinglicher Luxus. Daher entstehen überall im Kaiserreich „Volksbibliotheken“ – finanziert mit öffentlichen oder privaten Geldern.