Dr. Hans-Joachim Jakob, Universität Siegen, Lessing Jahrbuch XLV 2018
Es ist eine der erfreulichen didaktischen Innovationen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, dass der bedächtige und trockene Schulfilm aus den 1970er und 1980er Jahren nun endgültig durch multifunktionale mediale Formate ersetzt werden konnte. Die aktuellen, animierten und sorgfältig ausgestatteten filmischen Umsetzungen bereiten den Schülerinnen und Schülern respektive dem Lehrpersonal während der Rezeption ungleich größeres Vergnügen als ihre Vorgänger aus analogen Zeiten. Die Lessing-DVD ist nun schon die elfte Produktion in der DVD-Reihe <<deutsch interaktiv>>. In bewährter Manier setzt sie sich aus dem Hauptfilm (knapp 30 Minuten) über Leben und Oeuvre des behandelten Autors und einzelnen Modulen über ausgewählte Werke (um die 20 Minuten) zusammen, die durch eine weitere Überblicksdarstellung – in diesem Falle über das deutsche Theater im 18. Jahrhundert – ergänzt wird. Die einzelnen Module sind wiederum weiter parzelliert, in den Einzelwerkmodulen in die Segmente >Inhalt<, >Inszenierungen und Figuren< und >Werkgeschichte (und historischer Hintergrund)<. Die Informationseinheiten sind so konzipiert, dass sie jeweils für sich verständlich sind und weder die Kenntnis weiterer Untermodule noch die des Hauptfilms voraussetzen – die Verwendungsmöglichkeiten im Deutschunterricht der Sekundarstufe I und II sind also vielfältig. Nicht auf der DVD befindet sich das >>didaktische Begleitmaterial<<, das aber auf der Homepage der Anne Roerkohl dokumentARfilm GmbH verfügbar ist.
Der Hauptfilm resümiert Lessings Werdegang in wichtigen Lebensstationen, wobei die abwechslungsreiche Präsentationsform zwischen Statements von Ute Pott und Alexander Košenina, zeitgenössischen Bildzeugnissen und Originalaufnahmen von Lessings Wirkungsstätten hin- und herschaltet. Der historische Kontext wird dabei stark in den Vordergrund gerückt, insbesondere die Kriegsgeschichte, die auch durch einen eindringlichen Soundtrack akustische Akzente enthält. Lessing erscheint dadurch als Grenzgänger zwischen den Machtblöcken Sachsen und Preußen, den die Einsicht in die Unmenschlichkeit der militärischen Auseinandersetzungen zur Forderung nach Vernunft und Humanität veranlasst. Unterstützung erhält er dabei durch die feste Einbindung in die aufklärerische Gelehrtenrepublik und ihr mediales Netzwerk der literaturkritischen Journale. Insbesondere Košenina verortet Lessings dramatisches Schaffen im Wissenssystem der aufklärerischen Anthropologie und mithin im Kontext einer erst noch zu schaffenden psychologischen Schauspielkunst.
Die Werkauswahl der folgenden Module hat gut daran getan, den bereits im höheren Schulwesen des 19. Jahrhunderts konstituierten Kernkanon Lessing´scher Dramen beizubehalten und andere unterrichtsrelevante Texte, also etwa die Fabeln mitsamt ihrer Theorie, konsequent auszublenden. So kommen Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise zur Sprache. Den engsten Kontakt mit dem Hauptfilm hält dabei Modul I: Minna von Barnhelm. Tellheims missliche Situation wird evident aus dem historischen Kontext der Nachkriegszeit des Siebenjährigen Krieges hergeleitet. Eine abwechslungsreiche Bebilderung erhält der dramatische Konflikt durch Ausschnitte aus der historisierenden Inszenierung des Alten Schauspielhauses Stuttgart aus der Spielzeit 2014/15, denen kontrastierend Szenen aus der modernisierenden Bearbeitung des Theaters Magdeburg (2015/16) gegenübergestellt sind. Ehre und Geld als thematische Schwerpunkte schließen sich mindestens in der monetären Thematik an Lustspielstoffe seit den 1740er Jahren an. So entwickelt sich Minna zum Drama der starken Frauenfiguren (Minna und Franziska), die sich genau wie ihre Vorgängerinnen aus den Lustspielen zwischen 1740 und 1767 gegen eine engstirnige Männerwelt (hier aus der Sphäre des Militärs) zu behaupten wissen.
Modul 2 ist Emilia Galotti gewidmet und stellt gleich in den ersten Minuten die Frage, die die Rezipienten des Trauerspiels seit seiner Uraufführung bis heute umtreibt: Warum muss Emilia sterben? Die Irritation über das abrupte und bittere Ende leitet sich aus Lessings Weigerung her, eindimensionale Charaktere nach einem eingängigen Schema von >guten< und >bösen< Figuren zu entwerfen und dem Rollenfach zu genügen. Der Dramatiker zeigt hochgradig ambivalente und sich in inneren Qualen windende Gestalten, die in Košeninas Worten im Sinne der aufklärerischen Anthropologie zwischen Verstand und Gefühl hin- und hergerissen sind. Die von der Germanistik der 1970er Jahre ständig ins Feld geführte Hof- und Absolutismuskritik des Trauerspiels spielte dagegen weder beim Anlass der Fertigstellung und Uraufführung (dem 56sten Geburtstag der Herzogin von Braunschweig-Lüneburg 1772) noch in der zeitgenössischen Theaterkritik eine Rolle. Energetische Visualisierung erfahren die Ausführungen durch Einspielungen aus der forciert aktualisierten Inszenierung des Theaters Heidelberg (2014/15) und aus der historisierenden Bühnenfassung des Meininger Theaters (2015/16).
Modul 3 über Nathan den Weisen markiert mit dem voraussetzungsreichen >>dramatischen Gedicht<< den Abschluss der Werkauswahl. Insbesondere mit dem Rückgriff auf Szenen aus der Fassung des Theaters Erlangen (2015/16) werden die Figuren charakterisiert, die konfessionellen Konflikte benannt und die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse entwirrt. Die berühmte Ringparabel erfährt besondere Würdigung. Die verblüffende Aktualität des Nathan manifestiert sich dabei besonders in der freien Bearbeitung des Theater Strahl aus Berlin (2012), die den Originaltext strafft, die Verse auflöst, weitere Textpassagen einmontiert und eine Erzählerin und einen Erzähler als zusätzliche Figuren einsetzt. Die Bühne des Theaters Strahl ist von allen Seiten einsehbar und operiert mit einem absolut minimalistischen Bühnenbild, das Publikum besteht aus 14jährigen Schülerinnen und Schülern. Im werkgeschichtlichen Kontext des Nathan irritiert die Aussparung des Fragmentenstreits und des Namens Johann Melchior Goeze, wobei der religionsgeschichtliche Hintergrund des Nathan ohnehin nur sehr knapp umrissen wird.
Modul 4 bettet Lessings Dramenschaffen in den theatergeschichtlichen Kontext bis Ende des 18. Jahrhunderts ein. Das zeitgenössische Wanderbühnentheater setzt, so Peter Heßelmann, auf unterhaltsame Lustbarkeiten aller Art. Das exklusive Hoftheater konzentriert sich auf französischsprachiges Sprechtheater und die repräsentative Oper. Lessings Trauerspiel Miß Sara Sampson erscheint im Vergleich als vorbildhafte dramatische Novität, die sich auf die glaubhafte Inszenierung der Affekte stützen kann. Später sollte Lessings theaterpraktische Arbeit am Hamburger Nationaltheater, nach zwei Jahren gescheitert, innerhalb kurzer Zeit erfolgreiche Nachfolger finden.
Lessings Theaterkritiken insbesondere aus der Hamburgischen Dramaturgie wirkten stilbildend. Nach Lessing führte insbesondere Friedrich Schiller, so Mirjam Springer, die Affektdramaturgie in seinen frühen Dramen übersteigernd fort, während er die Hofkritik deutlich verschärfte. Nach Beginn der Französischen Revolution bemühte sich die Weimarer Klassik um die Domestizierung der Affekte und eine ästhetische anstelle einer gewaltsamen Revolution, wie Don Karlos und Johann Wolfgang Goethes Iphigenie auf Tauris dokumentieren.
So hat die DVD ihren >Sitz im Leben< im Deutschunterricht der Sekundarstufe I und vorzüglich in dem der Sekundarstufe II, wobei auch der universitäre Einsatz im germanistischen Grundstudium durchaus in Betracht zu ziehen wäre. Abgesehen vom reinen didaktischen Nutzwert liegt mit >Lessing als Film< ein hochinteressantes digitales Zeugnis der Lessing-Rezeption im 21. Jahrhundert vor.
Dr. Hans-Joachim Jakob, Universität Siegen